"ALSO SUCHTE ICH ZUFLUCHT BEI DEN VÖGELN"
1974 spannte der junge Franzose Phillippe Petit ein Seil zwischen den Türmen des World Trade Center und spazierte hinüber.
Im Trenchcoat und derber Lederkappe eilt Phillipe Petit an einem kalten Dezembertag durch die Straßenschluchten von New York. Sein Blick scheint nach innen gerichtet, sein Gang hat etwas rastloses, nervöses. Petit ist hier unten auf dem Asphalt nicht zu Hause. Dort oben, ganz oben, wo die Stadt endet und der Himmel beginnt, da ist das Reich von Phillipe Petit.
Petit ist Hochseilartist, vielleicht der berühmteste der Welt. 1974 spannte der Franzose mit der Hilfe von drei Freunden ein Seil zwischen den Dächern des gerade fertig gestellten World Trade Center und balancierte hinüber – 415 Meter über den geschäftigen Straßen New Yorks. Eine wahnwitzige, illegale, fantastische Aktion. Er ging nicht bloß hinüber, kreuzte den Draht wieder und wieder, er kniete und salutierte seinem Publikum in der Tiefe und legte sich schließlich zum Gespräch mit einer neugierig kreisenden Möwe über dem Abgrund nieder. Erst nach fast einer Stunde gelang es der New Yorker Polizei, Petit vom Seil zu locken und zu verhaften. Philippe Petit war 24 Jahre alt, und es war der Höhe- und Wendepunkt seines Lebens.
Warum? ist die Frage, die sich aufdrängt. Es ist das Wort, das ihm entgegenhallte, als ihn die Polizisten die Treppen des Südturms hinunterstießen, in die Arme einer atemlosen, begeisterten Menge. Die Dokumentation "Man on Wire" über Petits Coup, die jetzt ins Kino kommt, zeigt diese Szene als chaotischen Triumphzug. Warum macht jemand so etwas?
Man hat ihm vieles unterstellt – Todessehnsucht, Geltungsdrang. "Manche Leute, mit denen ich spreche", sagt der 59-Jährige, "verschwenden das gesamte Gespräch darauf, mir nachzuweisen, dass mich dies oder das trieb. Es ist idiotisch!" Der Coup liegt inzwischen 34 Jahre zurück, die Türme stehen nicht mehr, doch noch immer verweigert sich Petit einer Antwort. "Es gibt viele Gründe – wer ich bin, wer ich war. Aber dies ist etwas Magisches, Zauberhaftes, und das an einen Grund binden zu wollen heißt, die Magie selbst zu verkennen."
Magie? Petit ist kein Showmann, der die Anerkennung der Massen sucht. Er ist ein Gaukler, ein Spinner, ein Genie. Als er von den Türmen hinabstieg, überschlugen sich die Angebote: Für Fernsehauftritte, einen Filmdeal, Buchverträge wollte man den jungen Franzosen gewinnen. Burger King versprach ihm 100 000 Dollar dafür, als Hackfleischbrötchen verkleidet über einen Draht zu spazieren. Philippe Petit lacht bei der Erinnerung daran."Ich sagte: Leckt mich am Arsch! Das sind nicht genügend Nullen!" Er hatte kein Interesse, weil "diese Leute eine andere Sprache sprachen als ich." Sie hatten seinen Auftritt nicht verstanden, die Narren.
Philippe Petit, der heute in einer mit Werkzeugen aus dem 18. Jahrhundert selbstgebauten Scheune in den Catskill Mountains nördlich von New York City lebt, fühlt sich in der falschen Zeit geboren. Er sei ein Mann des Mittelalters, der Renaissance. "Ich hätte gern Kathedralen bauen geholfen, oder wie ein Maler die Pigmente der Erde zerstampft, um Farben zu mischen", sagt er. Stattdessen ist er "ein Handwerker, der in einer Welt kleiner Pixel und binärer Codes lebt, die ich hasse. Also habe ich Zuflucht bei den Vögeln gesucht."
An diesem Interviewtag im Dezember wirkt er wie ein Fisch an Land. Einer Handvoll Journalisten soll er hier in dem Gebäude an der Third Street, das neben der ARD auch den New Yorker Gouverneur beherbergt, Rede und Antwort stehen. Dies ist keine Performance, kein Akt der Kreativität, es ist – Geschwafel. Man sieht ihm an, dass er das nur mühsam aushält. Einem britischen Journalisten, der ihm mit einer Freudschen Interpretation des Hochseilakts kam, entgegnete er: “Scheiß auf Freud! Mir fehlt der Respekt für Menschen, die in anderer Leute Köpfe die Antwort auf unlösbare Rätsel suchen. Während sie damit beschäftigt sind, das Warum zu ergründen, bin ich dabei, es zu tun!"
Petit ist eine Diva, beseelt von großer Ungeduld angesichts der Nachlässigkeit und Trägheit seiner Mitmenschen. Es wäre nett, wenn man ihm den Tee brächte, statt ihn selbst danach suchen zu lassen, ermahnt er mit bemühter Höflichkeit die Pressedame. Der Konferenzsaal sei so hellhörig, dass er sich kaum konzentrieren könne. Und nach seiner Pause, bemerkt er, möchte er doch bitte pünktlich weitermachen. Mittelmaß ist ihm in jeder Hinsicht zuwider. Doch es geht ihm nicht darum, sich mit der Erniedrigung anderer über sie zu erheben. Er will höher hinaus, weil die schiere Möglichkeit ihm zur Verfügung steht. Er begreift das Leben als Aufforderung, Besitz davon zu ergreifen, Grenzen zu sprengen. Erstaunlich oft kommt ihm das Wort "impossible", unmöglich, über die Lippen – nicht als Resignation, sondern als Aufforderung zum Tanz.
"Philippe ist sehr anstregend", sagt seine Lebensgefährtin Kathy O´Donnell, eine freundlich-resolute Frau Anfang Fünfzig, die im Vorraum über ihrem Laptop sitzt. Sie ist heute das, was damals Petits Freunde Annie, Jean-Louis und Jean-Philippe waren – Hand und Fuß der Projekte von Philippe Petit, die Hochseiltänze zwischen dem Frankfurter Kaiserdom und der Paulskirche, über dem Superdome New Orleans und Sydneys Harbour Bridge umfassen. "Ich bin die Sau, die heuert und feuert", wie O´Donnell es mit einem burschikosen Lächeln ausdrückt. Zuletzt feuerte sie einen jungen Helfer, weil der sich beschwerte, dass er nur zwei Stunden Schlaf bekommen habe. "Philippe und ich sind Perfektionisten", sagt sie, "wir erwarten von uns und anderen absolute Hingabe und höchste Leistung. In diesem Beruf dürfen keine Durchhänger passieren."Über Petit, den sie in den Achtziger Jahren durch einen gemeinsamen Freund kennen lernte, sagt sie: "Er ist der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich kenne nicht viele, die über eine solche geistige Brennschärfe verfügen. Es ist fast unheimlich."
Schon seinen Eltern war der junge Mann zuviel. Sein Vater, ein Luftwaffenoffizier, und seine Mutter, eine Hausfrau, lehnten jede Verantwortung ab. "Vielleicht hatten Sie Angst vor diesem Kind, diesem jungen Mann, der genau in die Gegenrichtung ihrer eigenen Wünsche strebte", sagt Philippe Petit. "Irgendwann also, ich bin siebzehn Jahre alt, gehen sie zum Amt und füllen ein Papier aus, mit dem sie sich offiziell von mir lossagen. Ab sofort bin ich voll für mich selbst verantwortlich. Wenn ich das Gesetz breche, gehe ich in den Knast, aber sie geraten nicht in Schwierigkeiten."
Petit flog von fünf Schulen, zahllose Male war er in Polizeigewahrsam, meist für Straßenauftritte ohne Genehmigung, und jede Verhaftung war bloß eine neue Herausforderung, den Polizisten Uhren zu stibitzen oder Taschen zu leeren.
Petit hatte sich das Seiltanzen, Zaubern und Jonglieren selbst beigebracht, er trat als Straßenjongleur am Pariser Montparnasse auf, aber er träumte von verwegeneren Akten. 1971 spannte er bei Nacht und Nebel ein Seil zwischen den Türmen der Notre Dame und spazierte bei Tagesanbruch darüber. Es war eine Sensation, ein Gaunerstück, ein waghalsiger Auftritt. Aber es war nichts gegen das, was Phillippe Petit damals schon seit drei Jahren plante: Der Seiltanz zwischen den World Trade Center Türmen. "Das Kriminalstück des Jahrhundert", wie Petit es nennt. Das Unmögliche.
Petit und seine Kompagnons spähen wochenlang die nahezu fertiggestellten Türme aus, verkleidet als Geschäftsmänner oder Bauarbeiter. Sie schmuggeln hunderte von Kilo an Ausrüstung, darunter das über 200 Kilo schwere Drahtseil, am Wachpersonal vorbei aufs Dach. Mehrfach werden sie um ein Haar entdeckt, einmal müssen sie stundenlang bewegungslos unter Planen ausharren. Und nachdem sie in der Nacht ein Führseil mit Pfeil und Bogen von einem Turm zum nächsten geschossen haben, gleitet ihnen der schwere Draht fast ab.
Aber irgendwie schaffen sie es: Am Morgen des 7. August 1974 schreitet Philippe Petit hinaus auf den Draht. Es sei schwierig, diesen Moment in Worte zu fassen, sagt Petit 34 Jahre danach. "Ich nenne es den Sturm in meinem Kopf. Der Sturm wird zur Sinfonie, und die Sinfonie wird zur Stille – es ist eine ganze Welt von Ereignissen." Und doch hat er ihn vor Augen stehen. "Ich sehe alles, nehme alles auf, sogar die unsichtbaren Dinge. Ich sehe, wie sich der Draht benimmt. Ich sehe die Vibration der Luft, die Luftfeuchtigkeit – ich sehe alles, was ich wahrnehmen muss, um weiter zu leben." Dann erfasst ihn namenlose Freude. In seinem Buch "Über mir der offene Himmel", das zum Filmstart als "Man on Wire" neu erschien, rekapituliert er den Moment: Er staunt über seine Füße, appelliert sanft an den Draht, spürt den Abgrund und die Leere um ihn mit allen Sinnen.
Er neckt die hilflos herüberrufenden Polizisten auf dem Dach. Er blickt den Göttern ins Angesicht, ihnen ebenbürtig.
New York liebte den Mann, der das Unmögliche wagte. Und Petit badete in der haltlosen Erregung, die er inspirierte. Er schloß Freundschaften mit dem Schriftsteller Paul Auster, der Petits Abhandlung "On the Highwire" ins Englische übersetzte und ihn als "eine Art Helden" bezeichnete. Mit der Schauspielerin Debra Winger, die sich angeblich in jedem ihrer Filme vertraglich eine visuelle Hommage an Petits Tanz zwischen den Türmen zusichern lässt. Mit dem Filmemacher Werner Herzog, ein Mann seinesgleichen, "weil er ein Schiff über einen Berg schleppte", wie Petit in Anspielung auf Herzogs Dreharbeiten zu "Fitzcarraldo" sagt.
Herzog hatte sich 1982 im Rahmen der Dreharbeiten im Amazonas-Dschungel, die die Geschichte eines peruanischen Gummibarons nacherzählten, als "Conquistador des Nutzlosen" bezeichnet, und das ist es, was auch Philippe Petit als Kunst begreift: "Es gibt für mich nichts Erhabeneres, als nicht zu wissen, warum man dazu verdammt ist, etwas Sinnstiftendes zu tun!" In dieser Entertainment-gesättigten Welt gerieten Auftritte manchmal zu scheußlichen Schauspielen, sagt er, weil Künstler bemüht seien, dem Publikum oder dem Produzenten zu gefallen. "Ich glaube", sagt Philippe Petit, "dass ich dem Publikum mit dem totalen Rückzug in meine eigene Welt das größte Geschenk machen kann: Als Mensch, der total von seiner Leidenschaft gefangen genommen ist."
Der Spaziergang zwischen den Türmen ist für ihn zum Symbol für die Erreichbarkeit des Unmöglichen geworden, und deswegen will er weder im Film noch im Gespräch ihren Untergang thematisieren. Als die Türme, die Petit stets "meine Türme" nannte, am 11. September 2001 fielen, war er mit Kathy O´Donnell bei einem befreundeten Maler, der keinen Fernseher besaß. Sie eilten zu einem anderen Freund und wurden vor dessen Fernseher Zeugen, wie das zweite Flugzeug einschlug. "Meine Türme sind zu unseren Türmen geworden", sagte Petit. Seither plädiert er für ihren Wiederaufbau, und er versprach: Wenn sie einst wieder stehen, wird er erneut im Himmel dazwischen tanzen.